Hintergrund:

Vor einigen Wochen haben Delegierte aus unseren Strukturen an einem Treffen der Naturfreundejugend teilgenommen, in dem es um Perspektiven junger Menschen bezüglich Schule, Ausbildung und Freizeit ging. Ziel war es, mit den eingeladenen Politiker*innen ins Gespräch zu kommen. Dabei trug ein Jugendlicher, der in unserem Jugendverband organisiert ist und eine Erfurter Realschule besucht, seine Ängste und Befürchtungen hinsichtlich der anstehenden Abschlussprüfungen der 10. Klasse vor. Dass die Lernsituation für Schüler*innen im letzten Jahr sehr schlecht war, ist allgemein bekannt und wurde auch im Rahmen des Treffens anerkannt. Dennoch sollen die Prüfungen stattfinden. Zwar wird den Schüler*innen im Fach Mathematik eine Wahlpflicht-Option zugestanden, doch in den geprüften Fächern Deutsch und Englisch wird dies nicht für nötig befunden. Zudem ist ein freiwilliges Sitzenbleiben möglich. Die bei uns organisierten Jugendlichen haben in einem offenen Brief dargelegt, dass keine der beiden Optionen ihrer Lebensrealität gerecht wird und sie die Entscheidung daher nicht angemessen finden. 

Wir schließen uns dieser Sicht an und möchten in diesem Schreiben vor allem auf das Argument eingehen, dass „die Thüringer Schüler*innen“ sich die Prüfungen so wünschen würden.

Dieses Argument beruht auf einer Stellungnahme der Landesschülervertretung zum „Präsenzunterricht der Abschlussklassen, der Versetzungsgarantie und den anstehenden Abschlussprüfungen“. Darin wird zunächst festgestellt, dass es erhebliche Nachteile durch die zwei langen Schulschließungsphasen entstanden sind. Um einen „Corona-Jahrgang“ zu verhindern, wird allerdings eine „Prüfungsgarantie“ gefordert, die Abschlussprüfungen sollen also in jedem Fall stattfinden. Sowohl für die Abiturprüfungen als auch für die Besondere Leistungsfeststellung und den Real- und Hauptschulabschluss fordert die LSV jedoch zumindest eine Anpassung der Prüfungen. 

Vielmehr wurde dieses Statement herangezogen, um die vom Jugendlichen vorgetragene Kritik zu entkräften. Zwar sei der Politik bewusst, dass die ohnehin großen Bildungsunterschiede in der Schüler*innenschaft aufgrund der Pandemie noch weiter angewachsen sind, allerdings entspreche die getroffene Regelung den Forderungen der LSV, sei also im Interesse der Thüringer Schüler*innen oder zumindest einer Mehrheit von ihnen. Dabei wird jedoch übersehen, dass einerseits die Prüfungen nur leicht modifiziert und damit nicht wie gefordert angepasst werden und andererseits keine Garantie besteht, dass sich die in der LSV vertretenen Interessen tatsächlich mit den Interessen der Mehrheit der Thüringer Schüler*innen decken. Vielmehr sind wir der Ansicht, dass es strukturelle Gründe dafür gibt, dass die vorgefundenen uneinheitlichen und teilweise gegenläufigen Interessen der Thüringer Schüler*innen ungleich in der LSV repräsentiert werden. Somit kann ein politischer Beschluss, der die Zukunft vieler junger Menschen prägt, nicht allein damit gerechtfertigt werden, dass er einer Forderung der LSV entspricht.

Die Schüler*innenschaft ist nicht homogen. Wie in der Stellungnahme der LSV erwähnt, bestehen große Unterschiede hinsichtlich der pandemischen Einschränkungen zwischen den Regionen sowie hinsichtlich der Quarantänebestimmungen. Die bereits vor der Pandemie bestehende Chancenungleichheit aufgrund von Armut und unterschiedlichen materiellen Voraussetzungen wird allerdings nicht erwähnt. Dabei ist allgemein bekannt, dass sich diese durch das Homeschooling sowie Distanzunterricht noch einmal stark vertieft haben. Dieses setzt in vielen Bereichen voraus, dass die Eltern beim Lernen helfen können, dass die Familien die entsprechende (kostspielige) Technik besitzen und dass die räumliche Situation in den Wohnungen und Häusern ein effektives Lernen überhaupt zulässt. Offensichtlich hängen diese Voraussetzungen weitgehend vom sozialen und materiellen Hintergrund der Eltern ab.

Sind diese Voraussetzungen gegeben, fallen die pandemischen Einschränkungen weniger ins Gewicht, sodass der Durchführung von (modifizierten) Prüfungen nichts im Weg steht. Im Vordergrund steht dann, einen „Corona-Jahrgang“ zu vermeiden, der den eigenen Abschluss vermeintlich entwertet, weil er bei Universitäten und Arbeitgebern vielleicht weniger angesehen ist und die eigene höhere schulische Leistung im Abschlusszeugnis weniger zum Ausdruck kommt. Dass die Prüfungen stattfinden, liegt somit im Interesse vor allem derjenigen Schüler*innen, die sich am oberen Ende des Notenspektrums verorten.

Demgegenüber sind die Interessen der anderen Schüler*innen vor allem darauf gerichtet, dass die Pandemie die bestehenden Ungleichheiten nicht noch zementiert. Dies wäre allerdings absehbar der Fall, wenn die Prüfungen wie gewohnt oder nur mit leichten Modifikationen stattfinden würden. Homeschooling ist nicht möglich, wenn sich Jugendliche mit ihren Geschwistern, die ebenfalls zu Hause lernen sollen, kleine Wohnungen teilen müssen, wenn ihnen wie 70 % der Haupt- und Realschüler*innen der Zugang zu digitalen Endgeräten fehlt[1] oder wenn die Eltern nicht gut deutsch sprechen oder schreiben. Für die Eltern bedeutet Homeschooling circa 3 Stunden Arbeit zusätzlich[2] – fehlt ihnen diese Zeit, etwa weil sie Vollzeit arbeiten, geht das zulasten der Schüler*innen. In diesen Fällen muss das vergangene Jahr als weitgehend verlorenes Jahr betrachtet werden, in welchem kaum neuer Schulstoff gelernt werden konnte. Zudem erfordert das Homeschooling die Fähigkeit, sich neuen Schulstoff selbst anzueignen – eine Kompetenz, auf die an Gymnasien und Gesamtschulen viel Wert gelegt wird, während an den Realschulen vor allem darauf gesetzt wird, dass die Lehrer*innen den Stoff vermitteln und die Schüler*innen diesen zu Hause lediglich repetieren. Auf den Zusammenhang von sozialer Herkunft der Eltern und dem Besuch einer Realschule muss wohl kaum noch einmal hingewiesen werden.

Dass diese zweite Gruppe von Schüler*innen keine vernachlässigbar kleine ist, wird deutlich, wenn man sich die Daten zur Armut unter Kindern und Jugendlichen vergegenwärtigt. 2020 war in Deutschland mehr als jede*r fünfte Minderjährige armutsgefährdet oder arm, was sich durch die Pandemie noch einmal verstärkt haben dürfte. Mit dieser materiellen Armut geht häufig die sogenannte Bildungsarmut einher. Damit eng verbunden ist, dass Eltern ihre Kinder in der Schule kaum unterstützen können oder dafür nicht die Zeit haben.

Es ist unverkennbar, dass die getroffene Regelung, dass die Prüfungen weitgehend wie gewohnt stattfinden sollen, vor allem im Interesse der jungen Menschen liegt, die nicht in die zweite Gruppe fallen. Die Politik hat im Interessenkonflikt also eindeutig Position bezogen – zugunsten der besser- und zulasten der schlechtergestellten jungen Menschen. Dies entspricht (in Teilen) der Forderung der LSV. Allerdings ist die LSV selbst kein neutraler Akteur. Dass sie auf genau diese Weise legitimierend herangezogen wird, erscheint uns daher nicht als Zufall, sondern als prototypisch. Bildung spielt eine zu wichtige Rolle für Politik und Wirtschaft, als dass man sie wirklich den Schüler*innen überlassen könnte: Nichts wird Gesetz, nur weil die LSV es fordert. Daraus folgt aber auch, dass eine eigene Beteiligung in der LSV wenig erfolgversprechend ist, wenn man als Schüler*in konkrete Dinge ändern möchte. Hinzukommt, dass für dieses Engagement naturgemäß mehr Zeit bleibt, wenn einer*einem die Schule ohnehin leichtfällt – was maßgeblich vom familiären Hintergrund abhängig ist. In der LSV wird daher zum Teil eher Politik gespielt als gemacht. Die Mitarbeit in der LSV hat daher immer auch den Zweck, Kontakte zu knüpfen und den Lebenslauf aufzupolieren – beides Aspekte, die Gymnasiasten deutlich wichtiger sein dürfte als Real- oder Hauptschüler*innen. Bildungsaufsteiger*innen, die eine Real- oder Hauptschule besuchen und sich beteiligen, sind aus unserer Sicht kein Gegenargument, sondern die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Daher ist es kein Zufall, dass eine Politik, die sich an den Interessen der bessergestellten Schüler*innen orientiert, zur Legitimation auf die LSV verweisen kann.

Natürlich lassen sich die bestehenden Ungerechtigkeiten und ungleichen Ausgangsbedingungen auch mit dem „richtigen“ politischen Willen nicht auf einen Schlag lösen und die eine perfekte Lösung, die allen gerecht wird, gibt es nicht. Allerdings sollte sich die Politik dieser Probleme bewusst sein und eine möglichst gute Lösung für alle suchen anstatt eine einseitige Regelung zu treffen und dies mit dem Verweis auf ein nicht neutrales Gremium zu rechtfertigen. Die Entscheidung sollte sich daher nicht auf die beiden starren Alternativen „Prüfung für alle“ oder „Keine Prüfung für alle“ reduzieren. Insbesondere könnte der zu prüfende Stoff auf den des Schuljahres vor der Pandemie reduziert werden oder die Vorjahresnote als Abschlussnote gelten – möglicherweise kombiniert mit der Möglichkeit, die Prüfungen wie gewohnt zu schreiben.


[1] https://www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/homeschooling-bildungsschere-101.html

[2] https://www.tagesschau.de/investigativ/swr/homeschooling-111.html