Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches. Anlässlich des 79. Jahrestags des Tages der Befreiung vom Faschismus haben wir uns – gemeinsam mit der Projektgruppe „Erfurt im Nationalsozialismus“ – mit einem Redebeitrag an der Gedenkveranstaltung beteiligt. Lest hier unseren Beitrag!
Im Frühjahr 1945 ist die damals 38jährige amerikanische Fotografin Lee Miller im Gefolge der US-Army auf deutschem Boden unterwegs. Sie ist zivile Kriegsberichterstatterin für das Modemagazin „Vogue“ und dokumentiert für die Leserinnen in ihrer Heimat, was sie in Europa erlebt – mit der Kamera ebenso wie mit Stift und Papier. Zunächst berichtet sie aus Paris, dann aus Köln, später wird sie auf dem Ettersberg und in Dachau fotografieren. Doch Miller rückt nicht nur den Krieg in den Fokus, nicht nur die Verbrechen und das unvorstellbare Grauen der Lager. Sie berichtet ihrem Publikum auch von ihren Begegnungen mit denen, die dort leben, wo die großen Straßen und Plätze seit Jahren nach Adolf Hitler heißen, wo Menschen mit gelben Sternen auf Mänteln und Jacken einst hektisch ihre Besorgungen erledigten, bevor sie für immer verschwanden, wo die Ernte von Arbeitern eingebracht wird, die das weit weg von Zuhause und nicht freiwillig tun, wo die Trümmer bis vor Kurzem von mageren Menschen in gestreiften Drillichanzügen beiseite geschafft wurden. Lee Miller berichtet von ihren Begegnungen mit den Deutschen.
„Ungefähr hunderttausend Menschen lebten in den Kellergewölben der zerstörten Stadt. Ihre Unterwürfigkeit, ihre Heuchelei, ihre Freundlichkeit war abstoßend. Das unterirdische Netzwerk der Keller spuckte immer mehr Ungeziefer aus, sauber und wohlgenährt von den gehorteten und gestohlenen Vorräten der Normandie und Belgiens. Immer wieder irritierten und beleidigten mich die schleimigen Einladungen in die Kellerwohnungen. Ich konnte die Dreistigkeit der Deutschen nicht fassen, die in Militär-Jeeps mitgenommen werden wollten, oder die um Zigaretten, Kaugummi oder Seife bettelten. Wie konnten sie es wagen? Wie idiotisch und dumm meinen Gefühlen gegenüber! Wie kamen sie auf die Idee, dass sie ein befreites und nicht besiegtes Volk sind?“
Angewidert ist Miller von diesen Deutschen, die im Angesicht der Niederlage offenbar postwendend auf Identifikation mit den Siegern setzen. Sie nennt sie schizophren, kann das Maß an Verleugnung kaum fassen. Doch hat die kollektive Amnesie durchaus einen Zweck: Der Vergangenheit entledigt man sich am besten, noch bevor Fragen nach Verantwortung und Täterschaft überhaupt gestellt werden können. „Nazis, das waren wir nicht, das waren immer die Anderen gewesen!“
Die deutsche Realität sah freilich anders aus: Während sich im Rheinland die vermeintlich Befreiten den Alliierten bereits anbiederten, verteidigten noch einen Monat später im 400 Kilometer entfernten Erfurt fanatische Hitlerjungen, Wehrmachtsangehörige und „Volkssturm“-Rekruten das untergehende faschistische Reich mit ihrem Leben gegen die amerikanische Armee. Bis in die letzten Kriegstage kam es zu Kriegsverbrechen. Die Kämpfe um Erfurt endeten erst in der Johannesstraße.
Wie wenig die Mehrheitsgesellschaft zum Zeitpunkt der deutschen Kapitulation von der nationalsozialistischen Ideologie Abstand genommen hatte, zeigt sich jedoch nicht nur anhand der brutalen Verteidigungskämpfe um jeden Centimeter Boden noch im Angesicht der unmittelbar bevorstehenden Niederlage.
Es zeigt sich an Massakern wie dem in Celle, bei dem Bürger mindestens 170 flüchtende KZ-Häftlinge erschossen und das als „Hasenjagd“ bezeichneten.
Es zeigt sich bei Erschießungen von Wehrmachtsdeserteuren noch im April 1945 wenige Tage vor der Übernahme der Stadt durch die Amerikaner hier oben auf dem Petersberg.
Es zeigt sich in Weimar, wo Gestapo-Beamte Anfang April 1945 149 Insassen des Polizeigefängnisses ermordeten.
Es zeigt sich jedoch auch wenig später am Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit den aus den Lagern und Zuchthäusern Zurückgekehrten, mit den aus der Volksgemeinschaft Verstoßenen und mit denen, die tatsächlich mutig den Kampf aufgenommen hatten gegen den kollektiven Wahn.
Es zeigt sich an eisernem Schweigen, an Lügen, an der erfolgreichen Abwehr von tatsächlicher Entnazifizierung und Aufarbeitung.
Es zeigt sich am fehlenden Willen der Tätergesellschaft, die Opfer für das Erlittene zu entschädigen.
Es zeigt sich an der Rückforderung verlorener Ost-Gebiete.
Es zeigt sich am Stolz auf Deutschland.
Zu behaupten, die Deutschen seien 1945 befreit worden, macht unsichtbar, was es aus antifaschistischer Perspektive am Tag der Befreiung eigentlich zu betonen gilt: Befreit wurden eben nicht die Deutschen, sondern alle, die keine Deutschen waren: alle, die kein Teil der deutschen „Volksgemeinschaft“ waren, weil sie es nicht sein durften oder weil sie es nie sein wollten. An ein paar dieser Menschen wollen wir gern erinnern, denn ihr Überleben ist es, was an diesem Tag Anlass zur Freude gibt.
Wir erinnern an Hanna Elling, die gemeinsam mit ihrem Mann Kurt 1933 in Erfurt im kommunistischen Widerstand aktiv war und für ihre Tätigkeit zunächst im örtlichen Polizeipräsidium und später zeitweise im KZ Moringen eingesperrt war. Zwölf Jahre lang befanden sich Hanna und Kurt jeden Tag in akuter Lebensgefahr. Erst als das Ende des Faschismus unausweichlich und absehbar war, fanden die Beiden den Mut, gemeinsam ein Kind zu bekommen – „dem Führer ein Kind zu schenken“, war für die Antifaschist*innen zuvor undenkbar gewesen.
Wir erinnern an den in Erfurt geborenen Gert Schramm, der aufgrund der rassistischen Gesetze der Nazis nach der Schule keine Lehre beginnen durfte und deshalb als Hilfsarbeiter in einer Autowerkstatt arbeitete. Mit 15 Jahren verschleppten ihn die Nazis 1944 ins KZ Buchenwald, wo er als Jugendlicher den Einmarsch der Amerikaner erlebte.
Wir erinnern an Max Cars, der seit 1918 in der jüdischen Gemeinde Erfurts aktiv war, die Stadt aufgrund von antisemitischer Verfolgung allerdings verlassen musste und erst 1945 zurückkehrte, um hier wieder eine jüdische Gemeinde zu etablieren. 1951 konnte Cars endlich den Grundstein für den Neubau einer Synagoge legen, deren Adresse heute seinen Namen trägt.
Wir erinnern auch an Jochen Bock, der zusammen mit vier Mitschülern von der Handelsschule in der Erfurter Talstraße im Spätsommer 1943 ein Flugblatt gegen Hitler und den Krieg verfasste und verbreitete und dafür der Todesstrafe für Hochverrat nur knapp entging. Bock war bis zu seiner Verurteilung im Juni 1944 im Gefängnis in der Andreasstraße eingesperrt. Die Freude über seine Befreiung währte für den jungen Mann allerdings nicht lang. 1947 starb er noch vor seiner Volljährigkeit an Tuberkulose in Folge der erlittenen Haftbedingungen.
Wir erinnern am 8. Mai aber auch an diejenigen, die nicht befreit wurden – weil sie von den Nazis ermordet wurden, bevor die Rettung durch die Alliierten kam.
So erinnern wir an Waldemar Schapiro, der Anfang der 30er Jahre in Erfurt die KPD bei der Herausgabe ihrer von den Nazis verbotenen Zeitung unterstützte und deshalb 1933 nach kurzer Internierung im KZ in der Feldstraße von SA-Männern im Steigerwald zu Tode gefoltert wurde.
Wir erinnern auch an Rosemarie Cohn, 1928 geboren, die von Nachbarn mehrfach wegen Nicht-Tragen des „Judensterns“ angezeigt wurde, dafür zunächst nach Auschwitz und schließlich nach Bergen-Belsen deportiert wurde, wo sie im Januar 1945 an Hunger starb.
Und wir erinnern an Dr. Alex Heilbrun, der als Anwalt in der Weimarer Republik die Rote Hilfe unterstützte, von den Nazis als Jude 1938 zunächst zeitweise nach Buchenwald verschleppt und 1942 gemeinsam mit seiner Frau schließlich ins Ghetto Bełżyce deportiert wurde, wo er sehr wahrscheinlich starb.
Nach einem Weltkrieg mit über 60 Millionen Toten, einem Völkermord und Millionen Displaced Persons bleibt die deutsche Kapitulation sicherlich ambivalent und lädt nicht nur zum Feiern ein. Dennoch zeigt sich am Bezug auf den 8. Mai bis heute, was man vom nationalsozialistischen Deutschland hält.
Aus antifaschistischer Perspektive ist es ein Tag der Befreiung – für die deutsche Mehrheitsgesellschaft war er das auch nach 1945 sehr lange nicht.
Auch wenn sich das inzwischen geändert hat, hören wir von der rechten Seite nun wieder lautes Geheul über die „Niederlage des eigenen Landes“, wie Alice Weidel den Tag bezeichnet.
Dass der Faschismus 1945 besiegt worden sei, zu diesem Glauben gibt die aktuelle politische Situation keinerlei Anlass. So sollten wir heute feiern und uns aller Leben erfreuen, die durch den alliierten Kraftakt gerettet werden konnten – in ganz Europa. Wir sollten auch alle derer gedenken, denen das Leben genommen wurde, nicht zuletzt der Millionen alliierten Soldaten. Wir sollten uns aber vor allem bereit fühlen zu kämpfen gegen diejenigen, das Ende des deutschen Vernichtungskriegs heute wieder betrauern.