Redebeitrag der Falken Erfurt zum 1. Mai 2022
Wir haben uns überlegt, dass wir Euch gerne den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ zeigen würden. Der fasst nämlich gut das Gefühl zusammen, das wir im Moment haben. Die letzten 30 Minuten des Films hätten wir nicht gezeigt, denn uns scheint für unsere Lage auch noch kein Ende in Sicht. Leider haben wir aber wieder einmal keinen Platz auf der Bühne des DGB bekommen. Uns fehlt also die notwendige Technik und ihr müsst Euch nun doch mit einem einfachen Redebeitrag begnügen…
Ein bisschen ärgert es uns, dass die DGB den Grundgedanken unseres Plans übernommen hat und auch auf Wiederholung setzt. Sie spulen einfach das Programm der letzten Jahre wieder ab. Uns fällt es ganz schön schwer, wieder einen Redebeitrag für den heutigen Anlass zu schreiben. Das hat viele Gründe:
1. Die meisten Sätze und Formulierungen klingen totgedroschen, weil es jedes Jahr gerade jetzt notwendig ist etwas zu tun, weil wieder die Antwort Solidarität ist und weil die Bürger immer noch nicht ihr Maul auf machen.
2. Das Einzige, auf das wir uns am Ritual des 1. Mai noch freuen, ist die Bratwurst.
3. Die Unerträglichkeit unserer kapitalistischen Ordnung wird uns allen in unserem Alltag unausweichlich vorgeführt – vor allem vom DGB, unter dessen Schirmherrschaft der „Arbeiter*innenkampftag“ läuft. Ich wollte was lustiges aus dem Aufruf vorlesen, aber als ich das Motto „GeMAInsam Zukunft gestalten“ gegoogelt hab, habe ich nicht den Aufruf gefunden, sondern ein altes Projekt vom Europäischen Sozialfond: „ZUSAMMEN. Zukunft. Gestalten.“ Das Projekt war dazu da, Langzeitarbeitslose, Flüchtlinge und „asoziale“ Jugendliche in den Arbeitsmarkt zu integrieren – also die Leute schön in den Niedriglohnsektor zu holen. Die Zukunft ist blühend, solange man sich für das Kapital bücken kann. Wer nichts verkaufen kann, ist nichts wert. Und in einer Welt, in der das alle für ganz normal und ganz natürlich halten, schreit der DGB halt auch NUR „Mehr Lohn“, statt „Mehr Lohn und die Arbeit gehört abgeschafft“.
Wir möchten nun an unseren eigenen Erfahrung deutlich machen, was wir damit meinen, dass sich alles stets wiederholt, und dass wir nicht selbstbestimmt leben können. Wir haben dazu verschiedene Erfahrungen von Menschen aus unserer Gruppe zusammengetragen, die ich nun in der Ich-Form vorlesen werde.
Jede*r Einzelne von uns weiß, was es bedeutet, in dieser Gesellschaft erwachsen zu werden. Als ich ein Kind war, wusste ich, dass ich es anders machen will als meine Eltern. Ich werde viel Geld haben, werde ihnen ihre Schulden abbezahlen, ihre Wünsche erfüllen und nicht in einem Job arbeiten, der mich so fertig macht, dass ich meine Kinder am Abend als Last wahrnehme. Als ich Teenager wurde, wusste ich, dass ich nicht wie meine Eltern werden möchte. Nicht jeden Abend vor dem Fernseher einschlafen, nicht von der Vorstellung erschlagen sein, ganz ungeplant Besuch von Freund:innen zu bekommen. Nicht den Bildschirm anschreien, weil die Nachrichten einem nicht passen und dann am Ende keinen Finger dafür krumm machen, dass sich etwas ändert. Ich habe außerdem durch das Erwachsenenwerden gemerkt, dass diese Welt für mich gefährlich ist, weil ich eine Frau bin. Erste Grenzüberschreitungen fanden schon zu Beginn meiner Pubertät statt. Das Frauwerden war für mich direkt damit verbunden, dass ich objektifiziert und sexualisiert werde. Zum Ende meiner Schulzeit beteten mir dann meine Lehrer:innen vor, dass mir mit einem Abitur alle Türe offen stehen werden. Ich kann mich zu Allem entscheiden. Dass das eine Lüge ist, habe ich schnell verstanden. Die meisten Studiengänge waren mir mit meinem NC versperrt, ein Unternehmen werde ich leider nicht erben und mein Traumberuf – ein Handwerk – bezahlt viel zu schlecht und die Arbeitsbedingungen sind auch eine Zumutung.
Ich habe den Eindruck gehabt, dass alle Entscheidungen gleich schlecht sind. Also erst einmal irgendetwas studieren, was mich irgendwie interessiert. Die wichtige Entscheidung erst einmal schieben. Nach drei Semestern merkte ich, dass das alles ganz schöner Quatsch ist. Jetzt hatte ich aber schon einige Punkte gemacht, die Finanzierung meines Studiums hatte auch ein sichtbares Ende. Von der Lücke im Lebenslauf ganz zu schweigen. Also durchhalten. Fertig machen – ja und wenn es fertig ist, kann ich mich ja noch einmal umschauen und umorientieren. In der Zeit des Studiums haben sich mir schnell ökonomische Anhängigkeiten sichtbar gemacht. Ich habe gemerkt, dass meine Vorstellungen von einem Studi-Leben, in dem ich den ganzen Tag Kaffee trinke und mit Menschen über diese Welt und notwendige Veränderungen rede, nicht der Realität entsprachen. Stattdessen war fast nie Zeit für eine tiefgründige Auseinandersetzung, da die Prüfungen und Benotungen die eigentlichen Inhalte der Seminare waren. Dazu noch ein prekärer Minijob, weil das Bafög nicht reicht, den man sich irgendwie schön reden muss, um durchzuhalten – „Gut, dass ich diese Erfahrung mal gemacht habe…“. Als ich ein:e Student:in wurde, wusste ich, dass ich es nicht wie all die Anderen machen möchte. Nicht nur im Seminar radikal rumschwafeln. Keine oberflächlichen Beziehungen zu meinen neuen Freund:innen führen. Nicht vereinzelt vor mich hinleben, sondern Kollektive schaffen, gemeinsam Entscheidungen als Freundeskreis und als Politgruppe treffen. Nicht einfach wegziehen. Zum Ende meiner Studienzeit merkte ich dann, dass die meisten Freund:innen weggezogen sind und auch ich schon mehrmals mit dem Gedanken gespielt habe, einfach umzuziehen. Hier gibt es einfach zu wenig Jobs und nur noch Wenige, die bleiben. Auch die Prioritäten veränderten sich: Erst einmal Jobeinstieg organisieren, Studienschulden abbezahlen. Erst einmal durchhalten und dann nochmal schauen. Als ich lohnabhängig wurde, merkte ich, dass Ideologie etwas ganz Anderes ist als ein falsches Denken über die Welt. Ideologie ist das richtige Handeln in einer falschen Welt. Meine Eltern wollten nie in einem Beruf arbeiten, der schlecht bezahlt und ihnen kaum Zeit für ihre Kinder lässt. Sie wollten nie erschöpft vorm Fernseher sitzen und keine Kraft mehr dafür haben, ihre Freizeit bedeutungsvoll zu gestalten. Meine Freund:innen aus dem Studium wollten nicht einfach spurlos verschwinden oder nur noch für die Arbeit leben. Und ich will das alles auch nicht. Und trotzdem habe ich drei Streaming-Dienste abonniert. Für diese Tage, an denen ich nichts mehr schaffe außer Betäubung. Und trotzdem arbeite ich in einem Beruf, der mir nicht meine Wünsche erfüllen kann. Und trotzdem lebe ich allein in meiner Wohnung und habe das Ganze auch mit niemanden gemeinsam verhandelt. Nicht weil es mir es am Willen fehlt, nicht weil es mir an der Analyse fehlt, sondern weil ich immer wieder mit bestimmten Zwängen konfrontiert war, zu denen ich mich verhalten musste. Und es gibt in dieser Welt eben Verhaltensweisen, die deutlich leichter fallen als andere. Verhaltensweisen, die sinnvoller in dieser Welt sind. Dies liegt nicht an der Natur der Dinge, sondern an der Einrichtung unserer Welt. Sie ist zur zweiten Natur verkommen, sie spielt sich hinter unseren Rücken ab und wir haben keinen Zugriff auf sie. Es ist die von Menschen gemachte Herrschaft, die sich verselbstständigt hat und nun über alle Menschen herrscht. Keine geheimen Mächte oder Verschwörungen – ein System.
In der Vergangenheit wurde uns als Falken immer wieder vorgeworfen, dass unsere Redebeiträge zu akademisch waren, weil wir uns bemühten, mit eben diesen eine Analyse für das zu liefern, was aus unserer Sicht gerade passiert: Die Anschlussfähigkeit von rechten Ideologien innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft anlässlich des vermeintlichen Dammbruchs durch FDP und CDU 2020, die Vereinnahmung des Feminismus durch den Kapitalismus und die damit verbundene ideologische Verklärung der Prostitution oder zuletzt die Folgen der Mobilmachung innerhalb Deutschlands anlässlich des Kriegs in der Ukraine. Wir schreiben diese Redebeiträge nicht, weil wir zu diesen Themen gerade ein Seminar belegt oder eine Hausarbeit geschrieben haben. Wir schreiben Sie, weil der individuelle Blick im Kapitalismus ohnmächtig bleibt und nur eine Theoriearbeit uns allen die Möglichkeit öffnet, die Systeme zu verstehen, die hinter unserem individuellen Leid stecken. Und egal, welchen Wollknäuel wir gerade wieder für uns versuchen zu enthäddern, am Ende kommen wir immer wieder auf den Kapitalismus und die Einrichtung dieser Welt nach seinen Prinzipien. Versteht uns nicht falsch, das individuelle Leid soll nicht hinter einer Theorie verschwinden. Schließlich leitet sich die konkrete Einrichtung dieser Welt nicht aus einer Theorie ab. Es würde politisch aber auch nicht reichen, wenn wir unsere Rede nach der persönlichen Schilderung vom Anfang beendet hätten. Es braucht eine Theorie, um die Strukturen dieser Welt überindividuell begreifbar und damit veränderbar zu machen. Und deswegen bilden wir uns und Andere bei den Falken – egal ob Lohnabhängige und Student:in bei uns im [kany] oder Teenager und Kinder pädagogisch im Kidsklub Purpur. Wir organisieren uns in Lesekreisen, Politgruppen, fahren gemeinsam weg, kochen, feiern und diskutieren nicht zu knapp. Wir haben noch keine besseren Antworten auf das, was sich hier Leben nennt und noch keine besseren Lösungen als die gerade Vorgestellten. Wir suchen sie aber ernsthaft und hoffen sie gemeinsam mit all denen zu finden, die ihren Alltag genau so unerträglich finden wie wir. No War but Classwar ist für uns daher keine anachronistische Parole. Sie ist für uns nicht nur in Zeiten des Friedens relevant. Sie ist für uns die unbequeme Wahrheit, dass diese Welt mit ihren Kriegen für uns nichts bereithält. Sie ist ein gegenseitiges Versprechen der Verweigerung. Einer Verweigerung vor dem Krieg und eine Verweigerung vor dem ewigen Durchhalten. Wir wissen nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird, wir wissen aber, es muss alles anders werden, wenn es besser werden soll.